Fußnotenreport

In vielen Büchern hat Rudolf Breitscheid nur einen kurzen Auftritt. Eine solche Fußnotenexistenz schleppt manchen Fehler mit. Unser Korrektorat macht die Irrtümer dingfest.

Eine rekordverdächtige Fehlerquote gestattet sich der Parteienforscher Jürgen Dittberner in seiner Geschichte der FDP: „Rudolf Breitscheid war bereits 1907 von der aus der ‚Deutschen Freisinnigen Partei‘ (DFP) hervorgegangenen ‚Demokratischen Vereinigung‘ in die SPD gewechselt.“ Wir zählen vier Fehler. Hier die Fakten: 1) Breitscheid trat erst 1912 in die SPD ein. 2) Seine vorherige Partei, die Demokratische Vereinigung, wurde erst 1908 gegründet. 3) Sie war in ihrem Kern eine Abspaltung der Freisinnigen Vereinigung. 4) Die Deutsche Freisinnige Partei existierte nur bis 1893. (Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 30. Ebenso bereits in: FDP – Partei der zweiten Wahl, Opladen 1987, S. 23, und in: Parteien-Handbuch, Berlin 1984, S. 1312)

Die Studie von Anne-Laure Briatte über „Bevormundete Staatsbürgerinnen“ offeriert Kurzbiografien zu Rudolf und Tony Breitscheid im Anhang des Buches. Das korrekte Datum ihrer Eheschließung wird darin um sieben Jahre verfehlt: „Er heiratete 1908 die ‚radikale‘ Frauenrechtlerin Tony Drevermann […]“ Diesen Fehler hat der Breitscheid-Artikel von Paul Mayer in Band II der „Neuen Deutschen Biographie“ (1955, S. 579 f.) eingeschleppt – wohl von dort ist er ins Internet gelangt (Lebendiges Museum Online des DHM über Rudolf Breitscheid, Wikipedia und SPD Berlin über Tony Breitscheid). Das richtige Datum ist hingegen im „Wer ist’s?“ von 1928 zu finden: „Verheiratet 15.8.1901 mit Tony, Tochter von Ernst Drevermann“. Briefe und Zeitungsartikel von Tony B. bestätigen diesen früheren Zeitpunkt der Hochzeit – der logisch klingt, bedenkt man, dass die Breitscheids 1902 nach Berlin zogen und 1903 ihr Sohn Gerhard zur Welt kam. Zu den Quellen! … oder zur Fachliteratur: Hätte die heute an der Sorbonne lehrende Autorin die Dissertationen von Peter Pistorius (S. 5) und Marie-Dominique Cavaillé (S. 39) konsultiert, wäre sie auf 1901 gekommen. Doch bleibt sie ja sogar das Todesjahr von Tony Breitscheid schuldig; „nach 1946“ darf man ersetzen durch 9. August 1968, wie ein Brief ihres Sohns an Ernst Hamburger mitteilt. (Anne-Laure Briatte: Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die „radikale“ Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus, 2020, S. 457 f.)

Manchmal verbirgt sich in einer schlichten Fußnote die größte Sensation – eine Neuigkeit, von der die Forschung nicht zu träumen wagte. So verhält es sich mit folgendem Satz in Band 22 der Gesamtausgabe von Ferdinand Tönnies: „Breitscheid war in 2. Ehe mit Tony Drevermann verheiratet.“ Von einer ersten Ehe mit einer anderen Dame ist jedoch nichts bekannt. Wir wissen, siehe oben, dass Rudolf und Tony 1901 den Ehebund schlossen – im Alter von 26 bzw. 22 Jahren. „In 2. Ehe“? Es dürfte interessant sein, den Ursprung dieser überraschenden Behauptung zu ermitteln. (Bärbel Carstens, Uwe Carstens [Hg.]: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe TG, Bd. 22,2, 1932–1936, Geist der Neuzeit, Teil II, III und IV. Berlin und Boston: Walter de Gruyter, 2016, S. 231, Fußnote 42)

Unverhohlen feindselig agiert Peter Reichel in seinem Buch „Der tragische Kanzler“ über Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik. Will sagen: feindselig gegenüber Rudolf Breitscheid. Als Vertreter der USPD betritt dieser 1920 die Szenerie, und zwar „befremdlich“ im Ton, „hochmütig“ in der Ablehnung einer Regierungsbeteiligung von Sozialdemokraten. Peter Reichel hat drei Attribute für ihn parat: „so eloquent und ehrgeizig wie eitel“. Breitscheid, der linksbürgerliche ‚SPD-Lord‘, habe sich in der USPD als „intellektueller Parlamentsverächter“ aufgespielt und trotzdem – dann wieder bei der „Schwesterpartei“ – eine Karriere im Reichstag gemacht. Bis hierhin mag die muntere Polemik noch angehen, aber mit dem letzten Satz seiner Breitscheid-Abfertigung ergibt Reichel sich einer faktisch unhaltbaren Gefühlsaufwallung. Er schreibt, Breitscheid habe sich „am Ende“ – ob das Ende der Weimarer Republik gemeint ist oder das Ende der Großen Koalition 1930, bleibt nebulös – „wieder“ (!) als „Totengräber (!) der parlamentarischen Demokratie betätigt“. Reichel gönnt dem verdutzten Leser danach kein Argument und keinen Kontext, aber immerhin die Endnote 337. Was bekommt man dort? Eine Erklärung, ein entlarvendes Zitat, eine Diskussion des Forschungsstandes? Nichts davon, nur ein schlappes „Siehe dazu auch“ und die Nennung von drei biografischen Studien zu Rudolf Breitscheid. Diese lohnen alle die Lektüre, auch weil sie Kritik formulieren; doch die rachsüchtige Schmähung „Totengräber der Demokratie“ käme ihnen nicht in den Sinn. Sie gehört exklusiv Peter Reichel, der seinen professoralen Schmerz über die Spaltung und Uneinigkeit der SPD an einem Mann auslässt, der im Konzentrationslager Buchenwald in einem – Graben starb. (Peter Reichel: Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik. München: dtv, 2018, S. 180 f.)

Die Umstände des Todes von Rudolf Breitscheid hat die wichtigste Augenzeugin, seine Frau, in Zeitungsartikeln und Briefen beschrieben; trotzdem wird in einer Biografie über Ernst Thälmann eine widerlegte kommunistische Legende aufgetischt. Der Autor Armin Fuhrer schreibt, dass Thälmann per Genickschuss hinterrücks ermordet worden sei, und: „Das gleiche Schicksal teilt in dieser Nacht der einstige SPD-Reichstagsabgeordnete Rudolf Breitscheid. Um den Mord zu vertuschen, behaupten die Nationalsozialisten, die beiden Politiker seien am 28. August bei einem alliierten Bombenangriff auf Buchenwald ums Leben gekommen.“ Tatsächlich starb Breitscheid am 24. August 1944, nachdem er in einem Graben Schutz gesucht hatte und von Erdklumpen verschüttet worden war. Der Fliegerangriff galt den angrenzenden Rüstungswerken, doch eine Bombe traf jene Baracken am Rand des Lagers, in denen „Ehrenhäftlinge“ wohnten. Die angebliche Hinrichtung durch SS-Männer, von der Mithäftlinge sprachen, blieb ein Gerücht, das niemals Glaubwürdigkeit gewinnen konnte. Fuhrers einmalige Erwähnung Breitscheids, die keine Quelle nennt, ist daher haltlos und irreführend. (Armin Fuhrer: Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats. München: Olzog Verlag, 2011, S. 329)

Auch Peter Merseburger lässt Breitscheid nur ein einziges Mal auftreten, 1903: „einen schlanken jungen Mann, der von den Nationalliberalen kam“. Der zweite Teil des Satzes ist missverständlich – Theodor Heuss hat ihn in seinen „Erinnerungen“ falsch souffliert. Wohl arbeitete Breitscheid zuvor für zwei Zeitungen, die als „nationalliberal“ klassifiziert wurden, doch er war nicht Mitglied dieser Partei. Wie Tony Breitscheid klarstellte, war er „nur allgemein liberal orientiert“, als er seine ersten Stationen im Journalismus absolvierte. Parteipolitisch trat er in Erscheinung erst beim letzten Delegiertentag des Nationalsozialen Vereins im August 1903, kurz darauf folgte sein Beitritt zur Freisinnigen Vereinigung. (Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2012, S. 56)

In einer Studie zu monistischen Zeitschriften in Deutschland kommt die Rede auf „Das Blaubuch“, eine 1906 gegründete Wochenschrift: „Sie wurde 1908 von Rudolf Breitscheid übernommen und entwickelte sich zu einem wichtigen Organ der linksliberalen Demokratischen Vereinigung.“ Richtig ist, dass Breitscheid seit Mai 1908 in fast jeder Ausgabe den Leitartikel schrieb und großen Einfluss auf die politische Linie des „Blaubuchs“ ausübte. Doch „übernommen“ hat er das Blatt offiziell nicht – der Herausgeber war Heinrich Ilgenstein. In einigen Heften des 3. Quartals 1908 wird Breitscheid als „verantwortlich“ aufgeführt. Seine Mitarbeit endete im September 1909 nach Querelen über eine Weiterbeschäftigung des „Blaubuch“-Redakteurs Franz Pfemfert, mit dem Breitscheid sich überworfen hatte und vor Gericht stand. (Rita Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung. Der „Volkserzieher“, die Zeitschriften des „Deutschen Monistenbundes“ und die „Neue Metaphysische Rundschau“ 1897–1936. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2006, S. 121)

Der Publizist und FAZ-Herausgeber Joachim Fest machte 1973 in dem Bestseller „Hitler“ einen dubiosen Gebrauch von der Nebenfigur Breitscheid. Sie diente der Illustration dessen, was Fest als „das große Fehlurteil der Zeit“ über Adolf Hitler bezeichnete. Er kolportierte folgende Anekdote vom 30. Januar 1933: „Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Reichstag, Rudolf Breitscheid, der im Konzentrationslager Buchenwald endete, klatschte vor Vergnügen in die Hände, als er die Nachricht von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erhielt, endlich werde er sich zugrunde richten“. Also Hochmut, Unernst, Blindheit – in dieser Szene steckt ein herabwürdigendes Urteil über Breitscheid. Aber war sie der Wahrheit gemäß erzählt? Skepsis ist geboten: Den laxen Umgang mit Quellen haben Historiker dem Speer- und Hitler-Biografen Fest oft angekreidet. Auf wen stützte er sich hier? Fußnote 32 der Zwischenbetrachtung II verrät: „Die Stellungnahme Rudolf Breitscheids berichtet Fabian v. Schlabrendorff, ‚Offiziere gegen Hitler‘, S. 12.“ Fest zitierte demnach, um sein Paradebeispiel für den Leichtsinn „der Deutschen“ zu inszenieren, ohne Quellenkritik aus Memoiren eines Autors, der gar keine Zitatnachweise gab. Dazu gleich mehr – zu Fest noch, dass er Breitscheids „Vergnügen“ beim Händeklatschen selbst hinzugedichtet, also frei erfunden hat. (Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie. Hamburg: Spiegel-Verlag, 2006/2007, S. 595 und S. 1194)

Schlabrendorff hatte 1946 in dem erwähnten Buch behauptet: „Als Breitscheid von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hörte, klatschte er in die Hände und rief aus, nun werde Hitler bald erledigt sein, da er nicht imstande sei, als Reichskanzler mit den Schwierigkeiten der Regierung fertig zu werden.“ Auch hier ist fraglich, welche Quelle der filmreife Auftritt haben mag. War Schlabrendorff in der SPD-Vorstandssitzung anwesend? Sicher nicht. Hat er das Protokoll ausgewertet – oder andere Dokumente? Keine Angabe. Beruft er sich auf Augenzeugen oder Zeitungen? Nein, er geht erklärtermaßen unwissenschaftlich vor. Schlabrendorff nennt sein Buch einen „Erlebnisbericht“ und bittet um Nachsicht des Lesers für „Erinnerungsfehler“. Ganz gewiss ist er aber, am 30.1.33 als „politischer Hilfsarbeiter“ im preußischen Innenministerium keinen Zweifel darüber gehegt zu haben, „wohin die Herrschaft Hitlers führen würde“ – im Unterschied zu den „Überschlauen unter seinen Gegnern“ wie eben Breitscheid. (Fabian v. Schlabrendorff: Offiziere gegen Hitler. Zürich: Europa Verlag, 1950, S. 9, 12 und 22 f.)

P.S. zu Fest: In Reaktion auf dessen Buch erfragte der Historiker Ernst Hamburger 1974 eine Stellungnahme des Sohns von Rudolf Breitscheid. Die Antwort: „Dass mein Vater ‚vor Vergnügen in die Hände geklatscht‘ hätte, als Hitler Reichskanzler geworden war, scheint mir mehr als unwahrscheinlich, u.a. weil ich nicht glaube, dass er sich je in die Hände geklatscht hat. Als emotionelle Handlung ist es deshalb bestimmt verkehrt.“ (Gerhard Breitscheid an Ernst Hamburger, 20.6.1974, Leo Baeck Institute, New York, Ernst Hamburger Collection 1913-1980, General Correspondence B, Bl. 423)

Eine zuvor unbekannte Reichstagsfraktion kreierte Gertrud Theodor 1957 in einer Naumann-Studie marxistischer Prägung. Über das 1907 gewählte Parlament und seine konservativ-liberale Majorität, die den Reichskanzler Bülow unterstützte, ist zu lesen: „Nicht die gesamte Fraktion der Freisinnigen Vereinigung schloß sich übrigens damals dem Bülowblock an. Die Abgeordneten Theodor Barth, Hellmuth v. Gerlach und Rudolf Breitscheid machten diesen Schritt nicht mit und bildeten als Drei-Mann-Fraktion die sogenannte Demokratische Vereinigung, die nur während dieser Legislaturperiode bestand.“ Diese Fantasie einer Sezession entbehrt einer wichtigen Zutat: Keiner der drei Männer war Mitglied des Reichstags. Gerlach verlor 1907 sein Mandat in Marburg, Barth war seit 1903 nicht mehr Abgeordneter, und Breitscheid sollte bis 1920 darauf warten müssen. Es konnte also keine „Drei-Mann-Fraktion“ gebildet werden. Theodor hält an dieser Fiktion fest, wenn sie in Bezug auf Naumanns Wahlrechtsvorstoß im Juli 1907 anführt: „Nur die Demokratische Vereinigung von Barth, Gerlach und Breitscheid nahm gegen diesen Vorschlag Stellung.“ Da die Partei noch nicht existierte, erübrigt sich die inhaltliche Diskussion. (Gertrud Theodor: Friedrich Naumann oder der Prophet des Profits. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte des frühen deutschen Imperialismus. Berlin: Rütten & Loening, 1957, S. 82 und S. 84)

Der Irrtum, dass Breitscheid bereits im Kaiserreich und als Liberaler ein Reichstagsmandat besessen habe, findet sich auch bei Hans-Ulrich Wehler. Er schreibt über den 1911 gegründeten Verband zur internationalen Verständigung: „Schließlich entpuppte sich der ‚Verband‘ als Ableger des Linksliberalismus, in dem FVP-Abgeordnete wie Georg Gothein, Conrad Haußmann, Friedrich v. Payer und Rudolf Breitscheid den Kurs bestimmten.“ Breitscheid gehörte diesem Verband an, war aber weder Abgeordneter noch Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei. Zur FVP vereinigten sich die linksliberalen Parteien 1910 (nicht 1912, wie Wehler angibt) – „mit der Ausnahme von Barths Minipartei“. Deren Fahne Breitscheid auch nach Barths Tod 1909 und immerhin bis 1912 hochhielt! (Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1849–1914, München: C.H. Beck, Zweite Auflage 2006, S. 1108 und S. 1054)

Vergnügen und Verleumdung, Folge 1. Joachim Fest hat einige Leser gefunden, die seine Breitscheid-Anekdote goutierten und in eigenen Werken wiederholt haben – in Biografien, Romanen, Jugendbüchern, Essays, historischer Spezialliteratur. Alle paar Jahre klatscht Breitscheid irgendwo vergnügt bzw. auch schon „begeistert“ in die Hände. Da die Zahl der Fest-Kopisten längst zu groß ist, um sie in einem Aufwasch zu erledigen, sollen sie hier in zwangloser Folge zwischen Fundstücke zu anderen Themen eingestreut werden, auf dass ihre Methode – bedenkenloses Abkupfern und Ausschmücken – nicht ermüden möge. Den Anfang machte 1983 Friedrich-Karl von Plehwe in seinem apologetischen Buch über Kurt von Schleicher, den letzten Kanzler der Weimarer Republik: „[Breitscheid] habe, so wird berichtet, vor Vergnügen in die Hände geklatscht, als er die Nachricht von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erhielt, denn endlich werde er sich zugrunde richten.“ So wird berichtet: Mit diesem dankbaren Trick präludiert Plehwe eine vorwurfsvolle Klage über Breitscheids „Vorurteile und persönliche Aversion“ gegen Schleicher. In der Fußnote ruft er ihm schneidend nach: „Der glücklose Breitscheid ist später dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen.“ (Friedrich-Karl von Plehwe: Reichskanzler Kurt von Schleicher. Weimars letzte Chance gegen Hitler. Esslingen: Bechtle Verlag, 1983, S. 226)

Kaum aus der Welt zu schaffen ist ein irrlichterndes Datum, das Breitscheids Tätigkeit als Kommunalpolitiker betrifft. In einer 2011 erschienenen Quellensammlung zu dem Diplomaten Frederic von Rosenberg heißt es in einer Fußnote: „1904 Stadtverordneter in Berlin (Freisinnige Vereinigung 1908 Demokratische Vereinigung)“. Die Wahrheit ist, dass Breitscheid erst 1914, das heißt, als Kandidat der SPD in dieses Amt berufen wurde. Dies geschah auch nicht in Berlin, sondern in seinem Wohnort, der Vorstadt Wilmersdorf, die bis 1920 selbständig war. Einige Berichte der „Wilmersdorfer Zeitung“ vom November 1914 klären darüber auf, dass Breitscheid erstmals („neu“) in das Gremium eintrat; er kam als Ersatz für einen ausscheidenden sozialdemokratischen Stadtverordneten hinzu. (Wegen des „Burgfriedens“ im Deutschen Reich gab es de facto keine Wahlen nach Ausbruch des Weltkriegs.) Die falsche Datierung findet man in vielen Lebensläufen und sogar in der Forschungsliteratur zu Rudolf Breitscheid. Vermutlich hat sie ihren Ursprung in dem Artikel von Franz Osterroth im „Biographischen Lexikon des Sozialismus“ aus dem Jahr 1960. (Winfried Becker [Hrsg.]: Frederic von Rosenberg. Korrespondenzen und Akten des deutschen Diplomaten und Außenministers 1913-1937. München: Oldenbourg, 2011, S. 139)

Zur Abwechslung ein leicht zu erkennender Fehler. In einer Monographie zu Carl Herz, einem Hamburger Sozialdemokraten, schreibt Christian Hanke: „Breitscheid fungierte ab 1922 als einer der Fraktionsvorsitzenden der SPD im Reichstag“. In einer Fußnote auf derselben Seite steht sogar: „1920–33 einer der Fraktionsvorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion“. Und das als Abgeordneter der USPD, kaum zu glauben. Faktisch besser gesichert ist, dass Rudolf Breitscheid im Juli 1928 zu einem der geschäftsführenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion gewählt wurde – neben Otto Wels und Wilhelm Dittmann. Zuvor war Hermann Müller von 1920 bis 1928 Fraktionsvorsitzender der SPD. (Christian Hanke: Selbstverwaltung und Sozialismus. Carl Herz, ein Sozialdemokrat. Münster: LIT Verlag, 2004, S. 15)

Vergnügen und Verleumdung, Folge 2. Die künstlerische Freiheit erlaubte dem Romanautor „Stefan Murr“, die Schuld an der Kanzlerschaft Hitlers einem „verrannten Klassenkämpfer“ zu geben, der in der Stunde der Not nicht imstande gewesen sei, über seinen Schatten zu springen: „Am 6. Januar scheiterte dieser Versuch, Deutschland in letzter Minute zu retten, an […] Dr. Rudolf Breitscheid.“ Wiederum – in dem Roman „Die Nacht vor Barbarossa“ von 1986, neu aufgelegt 2016 – ist Schleicher der visionäre Staatsmann und Breitscheid der verblendete Nein-Sager: „Wie schrecklich die Alternative war, erkannte auch er zu spät. Er klatschte vor Vergnügen in die Hände, als die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bekannt wurde und rief aus, daß dieser sich dann ja bald zugrunde richten werde. Das vergnügliche Händeklatschen dauerte freilich nur kurz.“ Im nächsten Satz wird Breitscheid die Rechnung für seine Dummheit serviert: 55 Millionen Tote, darunter er selber, der „alsbald [neun Jahre später] von ihm [Hitler] in ein Konzentrationslager eingeliefert wurde“. Hätte Breitscheid doch nur Schleichers Vorschlag einer „breiten Front gegen Hitler“ gestützt, die Weltgeschichte wäre anders verlaufen, suggeriert „Stefan Murr“ – laut Verlagswerbung das Pseudonym eines promovierten Juristen, dessen Roman „exakt recherchiert wie ein Sachbuch“ sei. (Stefan Murr: Die Nacht vor Barbarossa. München: Droemer Knaur, 1986, S. 272 f. Neuauflage beim S. Fischer Verlag, 2016)

Wir blicken ein zweites Mal auf die Naumann-Studie von Gertrud Theodor. Sie ist in weiten Teilen verzerrend und polemisch – auch in dem folgenden Satz über eine Berliner Versammlung am 1. Februar 1905, „in der Breitscheid als Redner der Freisinnigen Vereinigung das Interesse des deutschen Finanzkapitals an den potentiellen Möglichkeiten eines liberalen Rußlands anmeldete“. Wohlweislich versucht die Autorin erst gar nicht, ihre unsachliche Darstellung zu belegen. Diese Rede hatte einen ganz anderen Charakter: Breitscheid protestierte gegen das zaristische Regime, die Unterdrückung des russischen Volkes und das „Niederknallen“ von wehrlosen Arbeitern. Nur eingangs sprach er davon, „daß unsere pekuniären Interessen bedroht sind“, da „dieser Nachbar uns verschuldet ist“ – er tat dies, um dem Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten zu begegnen. Von den wirtschaftlichen Möglichkeiten eines liberalen Rußlands sagte er nichts. Das ist Theodors absichtsvolle Falschmeldung – wie auch die Zuordnung des Redners zur Freisinnigen Vereinigung, die ihr als Kreatur der Deutschen Bank gilt. Doch trat Breitscheid als Vorsitzender des Sozialliberalen Vereins auf, was in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unterschied machte. (Theodor, Naumann, S. 232)

Vergnügen und Verleumdung, Folge 3. „Mutige Menschen“ betitelte Christian Nürnberger ein Buch, das zwölf biografische Porträts zum „Widerstand im Dritten Reich“ enthält. Es bekam 2010 den Deutschen Jugendbuchpreis in der Kategorie „Sachbuch ab 12“. Mut wird darin Elser, Moltke, Stauffenberg attestiert, aber nicht – wie zu erwarten – Rudolf Breitscheid. Der gehörte zu den „politisch Naiven“, die Hitler unterschätzten, wie Nürnberger nach der Fest-Lektüre weiß: „Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rudolf Breitscheid klatschte vor Vergnügen in die Hände, als er von Hitlers Ernennung zum Kanzler erfuhr, und sagte, endlich werde er sich zugrunde richten.“ Ein Popanz fürs Lehrbuch. Wie leichtfertig Nürnberger nach Effekten hascht, zeigt ja schon seine Ouvertüre, die Familien-Anekdote über den Wachmann mit geladenem Gewehr beim Reichsparteitag: „Mein Vater hatte nicht geschossen, Hitler konnte sein katastrophales Werk fortsetzen.“ (Christian Nürnberger: Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich. Stuttgart: Thienemann-Esslinger, Neuausgabe 2015, S. 90 f. und S. 10 f.)

In einem Aufsatz zu den Bemühungen um eine antifaschistische „Volksfront“ der deutschen Exilanten 1936 in Paris schreiben die Autoren über den „parteipolitischen Grenzgänger“ Rudolf Breitscheid: „Zuerst in linksliberalen Vereinigungen aktiv, stieß er 1912 im Rheinland zur SPD.“ Der politische Weg ist richtig skizziert, doch das Rheinland tut dabei nichts zur Sache. Der gebürtige Kölner Breitscheid lebte seit 1902 in Berlin. Zwar brachte ihn seine Kandidatur bei der Reichstagswahl 1912 im Wahlkreis Düsseldorf zurück in heimatliche Gefilde, aber der bald folgende Übertritt zur SPD vollzog sich in der Reichshauptstadt. Wie kam hier „im Rheinland“ ins Spiel? Die Autoren folgen Willy Brandt, der 1982 (in „Links und frei“, S. 153) falsch vorgelegt hatte: „als junger Liberaler im Rheinland zur Sozialdemokratie gestoßen“. In Breitscheids Sprachfärbung blieb der rheinische Klang stets erhalten – womöglich hat dies seine Erscheinung in Brandts Memoiren modelliert. (Jens Gmeiner/Markus Schulz: „Deutsche Volksfront ohne Volk. Manifeste des Widerstandes“. In: Johann Klatt/Robert Lorenz: Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells. Bielefeld: Transcript Verlag, 2010, S. 174)

In einer Studie zu „Family Punishment in Nazi Germany“ kommt Robert Loeffel auf Rudolf Breitscheid und seine Angehörigen zu sprechen. Das darin untersuchte Prinzip der „Sippenhaft“ wird in diesem Fall mehrfach überdehnt – wohl zugunsten der Stringenz des Narrativs. Zunächst wird ein Mitglied der „Sippe“ falsch identifiziert: „both Breitscheid’s adult children, Gerhard and Hildegard, had their citizenship removed as well“. Eine Tochter hatte Breitscheid nicht. „Hildegard“ ist vermutlich Gerhards Ehefrau, also die Schwiegertochter – uns ist aus der Nachkriegszeit aber nur eine Steffi Breitscheid bekannt. (Die Ausbürgerung 1940 dürfte zudem mehr mit Gerhards politischen Aktivitäten in Dänemark als mit dem Schwiegervater zu tun gehabt haben.) Dann schreibt Loeffel: „After the fall of France, Breitscheid and his wife lived in Vichy until 11 February 1941, when they were arrested […]“. Doppelt falsch: Sie lebten nach der Flucht aus Paris zunächst in Marseille, dann in Arles, wo Rudolf – nur er, nicht Tony – in Polizeigewahrsam genommen wurde. Sie konnte aber durchsetzen, ihn bei der Autofahrt nach Vichy zu begleiten. Dort wurde er von ihr getrennt und an die Gestapo ausgeliefert; die Deutschen brachten ihn nach Paris und bald nach Berlin. Tony kehrte nach Arles zurück: Sie sollte ihren Mann in den folgenden neun Monaten nicht sehen. Doch Loeffel exerziert das Konzept der „Sippenhaft“ durch und suggeriert, dass auch Tony im Berliner Gestapo-Gefängnis sowie später in Sachsenhausen und Buchenwald inhaftiert gewesen sei: „the Breitscheids were initially held in Berlin“.  Richtig ist hingegen, dass Tony auf freiem Fuß war, ihren Mann ab November 1941 im Gefängnis besuchte und 1942 bzw. 1943 freiwillig ins Konzentrationslager begleitete (wo ihr erlaubt war, das Lager zu verlassen, z.B. zum Einkaufen). Nicht zutreffend ist schließlich die Behauptung „Tony Breitscheid continued to be held until freed by the Allies at the end of the war“. Aus ihren Berichten an staatliche Stellen und Briefen geht hervor, dass sie allein wegen ihrer schweren Verletzungen noch vier Monate im Lazarett des Lagers blieb und am 28. November 1944 zu Freunden in Berlin-Wannsee übersiedelte. (Robert Loeffel: Family Punishment in Nazi Germany. Sippenhaft, Terror and Myth. Palgrave Macmillan, 2012, S. 34)

Vergnügen und Verleumdung, Folge 4. Wie mag Breitscheids angebliches Händeklatschen am 30. Januar 1933 auf Französisch klingen? Ein Beispiel. Der renommierte Historiker Lionel Richard ist Joachim Fest auf den Leim gegangen und brachte dessen Kolportage 2014 über den Rhein: „Hitler sera-t-il capable de mener la barque ? Dans l’après-midi du 30 janvier même, au parlement, l’élu social-démocrate Rudolf Breitscheid a applaudi à sa prise de fonction. Il pense que c’en est fini pour le chef nazi de critiquer à tout bout de champ.“ Applaus für Hitler – die Herkunft der fabrizierten Geschichte belegt Richard schon gar nicht mehr. Sie scheint (ihm) Allgemeingut geworden zu sein. Breitscheid dient wieder als glänzende Galionsfigur der politischen Blindheit: „Beaucoup de démocrates allemands sont de cet avis.“ Und damit hat Breitscheid seine Schuldigkeit getan – keine weitere Erwähnung. (Lionel Richard: Malheureux le pays qui a besoin d’un héros. La fabrication d’Adolf Hitler. Paris: Éditions Autrement, 2014)

In Martha Buschmanns Kurzbiografie zu Carl von Ossietzky von 1964 wird dessen erste – und Breitscheids zweite – Partei erwähnt: „Die ‚Demokratische Vereinigung‘ hatte sich im Frühjahr 1909 konstituiert […]Die Gründung dieser Partei geschah bereits am 16. Mai 1908, aber noch mit dem Zusatz „Sozialliberaler Verein in Berlin“. Am 25. Oktober 1908 wurde die DV in eine Partei auf Reichsebene umgewandelt. Auch auf die Parteizeitung „Das freie Volk“ kommt die Autorin zu sprechen: „ein Jahr lang zeichnete Dr. Rudolf Breitscheid als Herausgeber verantwortlich“. Er tat dies von der Probenummer 1 am 11. Dezember 1909 bis zu Nr. 5 des 3. Jahrgangs vom 3. Februar 1912. Also zwei Jahre und zwei Monate – bis zu seinem Übertritt von der DV zur SPD. (Martha Buschmann: Carl von Ossietzky. 3.10.1889–4.5.1938. Ein Leben für Frieden und Freiheit. Düsseldorf: Deutsche Friedensgesellschaft, 1964, S. 6)

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