Schwarm / Intelligenz

Das Internet liefert uns viel „Information“ über Rudolf Breitscheid. Aber längst nicht alles stimmt. Hier gibt es Anmerkungen zu Lebensläufen, Porträts und Gedenkreden.

Rudolf Breitscheid beim Archiv der sozialen Demokratie
Screenshot AdsD / FES (Bild: ed. Rubrin)

Der Rundgang beginnt bei einem „Historischen Stichwort“ auf den Seiten des Archivs der sozialen Demokratie in Bonn. Wir sind also zu Gast bei der Friedrich-Ebert-Stiftung – hier sollte der Genosse Breitscheid ein Heimspiel haben. Ab dem Eintritt in die SPD (1912) sind seine Lebensstationen auch korrekt geschildert. Nur dass die USPD-Zeitung „Der Sozialist“ ein Theorieorgan gewesen sei, ist eine missverständliche Kennzeichnung: Ihr Chefredakteur Breitscheid behandelte doch meist die politischen Tagesfragen. Zuverlässige Informationen erhält man über R. B. in der Weimarer Republik, sein französisches Exil, die Auslieferung, die KZ-Haft, die Umstände seines Todes. Zu Recht wird er als „führender Kopf der Sozialdemokratie“ und als Außenpolitiker gewürdigt. Doch ärgerlich sind die Fehler in den Eckdaten des jüngeren Breitscheid. Er habe 1895 im Fach Volkswirtschaft promoviert – richtig ist 1898 und historisch exakt Nationalökonomie. Er habe danach für liberale Zeitschriften gearbeitet – es waren Tageszeitungen. Er tat dies nicht nur in Hamburg und Hannover, sondern ab 1902 als Reichstagskorrespondent in Berlin. Dann sei er 1905-08 Geschäftsführer des Handelsvertragsvereins gewesen – er war anfangs lediglich Sekretär, und Geschäftsführer blieb er bis Ende 1909. Er sei ab 1904 Stadtverordneter und Mitglied des Provinziallandtags gewesen – die am meisten wiederholte Falschmeldung zu seiner Vita, richtig ist 1914. Er habe bei Stampfers „Pressekorrespondenz“ mitgearbeitet – es war die „Privatkorrespondenz“. Schließlich gibt es eine unhaltbare Behauptung zur Freisinnigen Vereinigung: Ihre Beteiligung am Bülow-Block, das heißt ihr Rechtsschwenk sei eine Folge des Eintritts der Nationalsozialen (zu denen Breitscheid zählte) gewesen. Hier wird natürlich gegen Naumann geschossen, aber diesen pauschalen Trugschluss hätte Breitscheid selbst für Unsinn erklärt. Er geißelte stets jene blockfreundlichen Alt-Freisinnigen, denen umgekehrt die ehemaligen Nationalsozialen verdächtig waren – wegen deren Sympathie für einen „Block der Linken“ mit der SPD. So schließt sich der Kreis, und wir müssen erneut feststellen, dass Breitscheids liberales Vorleben für Unklarheiten sorgt, auch bei der „Firma“ nebenan.

Screenshot Handelsblatt (Bild: ed. Rubrin)
Screenshot Handelsblatt Global (Bild: ed. Rubrin)

Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin brachte auch dem Namensgeber dieses Ortes eine gewisse mediale Aufmerksamkeit. Beachtlich war vor allem ein Artikel in der „Global Edition“ des Handelsblatts, der die englischsprachige Welt unterrichten sollte. Er trug die Überschrift „Rudolf Breitscheid, the Man Behind the Square“ und stammte von Kevin O’Brien, dem Chefredakteur von Handelsblatt Global. Der am 20. Dezember 2016 online veröffentlichte Text ist zu großen Teilen noch abrufbar, und ihm muss klar widersprochen werden. Einige krasse Fehlangaben über den „anti-Nazi hero“ trüben das lobenswerte Engagement des Amerikaners O’Brien. Wir blicken zunächst auf den „Facts“ betitelten Infokasten. Da heißt es, Breitscheid sei Politiker geworden, nachdem er „kurzzeitig“ (briefly) als Journalist gearbeitet habe. Richtig ist, dass er von 1898 bis 1920 seinen Lebensunterhalt als Zeitungsredakteur, Parlamentskorrespondent, Herausgeber und Autor verdiente; erst mit dem Reichstagsmandat wurde Breitscheid zum Berufspolitiker. Zweitens wird behauptet, er habe 1933 gegen Hitlers Machtergreifung gestimmt. Das ist falsch. Breitscheid blieb der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23. März fern. Zweifellos hätte er wie die gesamte SPD-Fraktion mit Nein gestimmt, doch stand er unter dem deprimierenden Eindruck des SA-Terrors gegen die Abgeordneten und meldete sich krank. Drittens der erstaunlichste Fehler: Breitscheid, in Nazideutschland verhöhnt, sei „schließlich“ (eventually) nach Frankreich geflohen, und zwar 1940. Dabei ist allgemein bekannt, dass er Ende März 1933 in die Schweiz ging, fünf Monate später nach Paris. In weiteren Textpassagen greift das Handelsblatt ebenfalls daneben. Breitscheids Grab soll sich in Berlin-Lichtenberg befinden, zutreffend ist: auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf am entgegengesetzten Stadtrand. Briefmarken in West- und Ostdeutschland hätten Breitscheid abgebildet, rühmt O’Brien – allein die Post der DDR erwarb sich (1958 und 1974) dieses Verdienst. Man spürt das Bemühen, Breitscheids Vita zu polieren: Innenminister von Preußen war er, zum Beispiel, nur zwei Monate lang. Von den vielen Unschärfen dieses Porträts sei eine herausgehoben: Breitscheid als „anti-Nazi underground leader“ zu bezeichnen, ist stark übertrieben. Er war weder im Untergrund noch im eigentlichen Widerstand tätig, sondern für alle Welt sichtbar als Publizist, Mitarbeiter in einem Flüchtlingskomitee und Teilnehmer der Pariser Bemühungen um eine antifaschistische „Volksfront“. In der ersten Online-Version des Textes gab es noch diese (typisch amerikanische?) Spekulation des Nachrufers auf Breitscheids Gefühlslage: „he never gave up hope.“ Er ahnt ja nicht, wie tiefschwarz dessen Pessimismus – bei aller persönlichen Tapferkeit – in der Nazizeit war. Hier eine briefliche Äußerung von 1934: „Wir werden also unser trübes Leben weiterführen müssen und nur für unsere Kinder hoffen können, dass sie den Sonnenaufgang in Deutschland sehen.“ Und eine von 1941: „Allmählich kommt über mich ein Gefühl stumpfer Resignation.“ So etwas passt eben nicht in gutgemeinte Märtyrergeschichten.

 

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